Plötzlich Mitte März wurde der Lockdown über uns verhängt. Von einem Tag auf den anderen fanden wir uns einer völlig neuen Welt gegenüber. Als Beraterin, Coach und Dozentin beschäftige ich mich schon viele Jahre mit dem Thema „Interkulturelle Kompetenz“.

Geert Hofstede (1928 – 2020) einer der bekanntesten ersten Vertreter im Bereich Interkulturelles Lernen, bezeichnet eine kulturelle Prägung als „Software of the Mind“, als die Gesamtheit der Werte, Normen, Einstellungen und Überzeugungen einer sozialen Einheit, eines Kulturkreises, die sich über eine Vielzahl von Verhaltensweisen und sichtbaren Errungenschaften ausdrückt.

Wir müssen nun nicht mehr in ein anderes Land, einen anderen Kontinent reisen – ob freiwillig oder nicht – , um hautnah in eine andere Kultur einzutauchen und interkulturelle Erfahrungen zu machen – die andere Kultur ist zu uns gekommen.

Die Werte unseres Zusammenlebens, die wir bis März als selbstverständlich zu uns gehörig erachtet haben, mit denen wir aufgewachsen sind, sind schlagartig andere geworden. Wir müssen uns gewöhnen an alternative Begrüssungsrituale, persönliche Distanz- und Hygieneregeln, home-office und home-schooling etc. Der Spiegel der Welt, in den wir blicken, zeigt uns eine komplett veränderte Welt. Und plötzlich fühlen wir uns in der eigenen Umgebung fremd, konfrontiert mit neuen Denkmustern und Verhaltensweisen.  Wir fühlen uns wie ein Fisch ohne Wasser, außerhalb unserer gewohnten Lebenswelt.

Ganz automatisch und fast unbemerkt haben wir uns schon selbst verändert. Wir  haben uns mehr oder weniger in unsere  Schneckenhäuser zurückgezogen. Einerseits aufgrund der Anweisungen nicht ganz freiwillig und andererseits aber auch aufgrund der Corona Bedrohung, der Angst, des Schocks in welcher Welt wir uns plötzlich wiederfinden.

Wir Menschen sind keine Roboter mit einem Ein- und Ausschaltknopf und schon gar nicht sind wir ferngesteuerte Wesen. Wie bei jedem Veränderungsprozess, den wir in dem Fall getrost auch als Kulturschock nach Kalervo Oberg (1960) bezeichnen dürfen, durchlaufen wir alle einen Anpassungsprozess an die neue fremde Kultur. Phasen des Unbehagens und der Desorientierung wechseln sich ab mit verständnisvolleren Phasen.  Wir müssen unser Verhaltens-Repertoire erweitern. Unter anderem mit Ambiguitätstoleranz. Vereinfacht gesagt bedeutet das Frustrationstoleranz, d.h. Unsicherheiten auszuhalten und damit umgehen zu lernen.

Aufgrund der enormen Auswirkungen dieses Lockdowns auf unseren gewohnten Lebensrhythmus  hat sich jetzt eine Art Eigendynamik entwickelt, die vorher so nicht absehbar war.  Nicht nur die Welt da draußen hat sich verändert, sondern auch wir, deren Bewohner. Wir haben uns aufgrund dieser ganz neue Erfahrungen persönlich weiterentwickelt. Wir haben neue Fertigkeiten, Kompetenzen, Coping Strategien erworben, die wiederrum nicht per Knopfdruck entsorgt und entkräftet werden können. Daher kommt es in dieser momentanen Phase des Hochfahrens der Wirtschaft erneut zu einem „interkulturellen“ Verständnisproblem, dem sogenannten Re-Entry-Schock, um in der Fachsprache zu bleiben.

Das ist der Grund weshalb wir auch trotz gesetzlicher Lockerungen nicht mehr automatisch in frühere Verhaltensmuster zurückfallen können. Die Klagen über Umsatzrückgänge in Kunst und Kultur, der Lokale und Geschäfte, Hotelanbietern und anderen Branchen liefern den Beweis dafür. Wir können diese schwierigen Monate des Lockdowns nicht einfach ausblenden und müssen uns weiterhin in Ambiguitätstoleranz üben. Wir haben uns bereits verändert und werden es weiterhin tun – wohin die Reise gehen wird, werden wir erst sehen.

Was es braucht, ist genügend Zeit für Reflexion, um den erlebten Kulturschock verarbeiten zu können, neue Lösungen anzuvisieren oder zu etablieren damit wir nicht in einen Verdrängungsmodus verfallen. Und um es mit den Worten Winston Chruchill`s zu formulieren: Never let a good crisis go to waste. Keine Krise sollte ungenützt vorüber gehen und birgt auch immer Chancen zu persönlichem Wachstum und Veränderung.

Ursula Koller, Juni 2020